Dr. phil. Daniela Zahn, vom Psychologischen Institut der Johannes Gutenberg Universität Mainz, hat die Metaanalyse zusammen mit ihren Mainzer Kollegen veröffentlicht. Ich war mit der Psychologin verabredet. Gleich zu Beginn unseres Gesprächs nahm sie mir meine Hoffnung auf bahnbrechende Ergebnisse. Ich ließ mich von ihr nicht abschrecken und bat sie trotzdem um eine Einschätzung und Interpretation der Ergebnisse. Nichts ist vergebens, irgendeine Erkenntnis gibt es immer.
Für die Metaanalyse wurden 26 Studien aus dem In- und Ausland ausgewertet. Sie kamen aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen. Es gab Arbeiten aus dem Sport, der allgemeinen Psychologie oder über das Essverhalten. Bei allen Untersuchungen mussten die Teilnehmer im Labor verschiedene Aufgaben meistern. Sie sollten zeigen, wie gut sie ihre Aufmerksamkeit, aber auch ihre Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen bewusst steuern können.
Für die Wissenschaftlerin waren die verschiedenen Aufgabenstellungen eine Herausforderung. Um die Studien miteinander vergleichen zu können, musste sie erst eine geeignete Einteilung finden. Ein Ansatz bei der Auswertung war, die Studien rein nach den Inhalten einzuteilen. “Mit den drei Kategorien Gefühls-, Aufmerksamkeits- und Kognitive-Kontrolle haben wir versucht, die verschiedenen Aufgaben nach der inhaltlichen Ausrichtung zu klassifizieren.”
Wie lässt sich Selbstkontrolle messen?
Interessant ist natürlich, was für Aufgaben die Studienteilnehmer machen mussten. Frau Dr. Zahn hat ein paar Beispiele parat: “Bei der Gefühlskontrolle bekamen die Probanden beispielsweise verschiedene Gesichter gezeigt. Neben unterschiedlichen Gefühlszuständen standen auf den Gesichtern auch immer vier Buchstaben. Die Aufgabe bestand nun darin, zu erkennen, ob es immer die gleichen Buchstaben sind. In diesem Fall mussten also die eigenen Gefühle für eine Lösung unterdrückt werden. Bei anderen Tests stand mehr die Aufmerksamkeit im Vordergrund. Hier wurden den Probanden verschiedene Reize am Computer präsentiert, sie sollten sich aber nur auf einen konzentrieren und die anderen ausblenden. Komplexere Anforderungen der Wahrnehmung waren in der dritten Kategorie, der kognitiven Fähigkeiten gefragt. Die Teilnehmer sollten beispielsweise auf ein bestimmtes Signal hin eine Taste drücken. Während der Ausführung wurden die Instruktionen geändert und es galt dann, auf ein anderes Signal zu reagieren.”
Die gemessenen HRV-Werte in den Studien
Die Herzratenvariabilität (HRV) wurde mit verschiedenen Messgeräten in den Studien erhoben. Zum Einsatz kamen stationäre und ambulante EKG-Geräte, aber auch Pulsuhren. Den Hauptanteil machten jedoch die medizinischen Messgeräte aus. Die Auswertungsmethoden unterlagen den Richtlinien der Task Force European Society of Cardiology und der North American Society of Pacing Electrophysiology. Alle Messungen zeichneten den Ruhepuls auf und dauerten mindestens zwei Minuten an. Betrachtet wurden die Werte der High Frequency (HF), der Root-Mean-Square-of-Successive-Differences (RMSSD) und der Standard-Deviation-of-the-NN-Intervall (SDNN).
Die Ergebnisse sind, wie schon angekündigt, eher bescheiden. Frau Dr. Zahn fasst sie zusammen: “Bei der Betrachtung des Gesamt-Mittelwerts lässt sich nur ein kleiner positiver Zusammenhang zwischen HRV und Selbstkontrolle feststellen. Egal ob bei der inhaltlichen Klassifizierung oder bei den exekutiven Funktionen, wenn man die jeweils drei Kategorien untereinander vergleicht, gibt es keine signifikanten Unterschiede. Mittelt man hingegen die Kategorien noch einmal einzeln, so gibt es bei der Gefühlsregulation und der Aufmerksamkeitskontrolle einen Zusammenhang zur HRV. Bei der kognitiven Kontrolle findet sich dieser nicht, aber in diesem Bereich waren die Berechnungen schwieriger, weil nur sehr wenige Studien vorlagen.”
Bei der Auswertung der Studien wurden mögliche Einflussgrößen, sogenannte Moderatoren, einbezogen. Diese umfassten z. B. die unterschiedlichen Geräte und Auswertungsmethoden, die verschiedenen Handhabungen bei der Atmung oder ganz allgemein die Qualität der Studien. “Wir haben natürlich auch geschaut, ob es einen Unterschied gibt, welcher HRV-Wert verwendet wurde. Es war nicht relevant, ob HF, RMSSD oder SDNN in die Auswertung einbezogen wurden.”
Erkenntnisse zur Alltagstauglichkeit
Frau Dr. Zahn sieht das Ergebnis nicht ganz so negativ, wie es im ersten Augenblick vielleicht erscheinen mag. “Wenn man mal ganz genau hinschaut, dann waren es hauptsächlich Studenten, die an den Studien teilgenommen haben. Sie führten unter Laborbedingungen und für eine Aufwandsentschädigung verschiedene Aufgaben aus. An dieser Stelle sollte man sich die Frage stellen, wie vergleichbar sind die Umstände und Situationen mit dem Alltag. Dieser kleine positive Zusammenhang zwischen HRV und Selbstkontrolle bezieht sich auf künstliche Tests, also Aufgaben, die mit dem normalen Alltag recht wenig zu tun haben. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Zusammenhang höher ausfallen würde, wenn eine andere Motivation vorläge als bei bezahlten Studenten.”
Der hohe Anteil der Studenten in der Metaanalyse zeigt sich im Durchschnittsalter von 22,4 Jahren. Sie spiegeln eine überwiegend gesunde und junge Stichprobe wider. Studien mit älteren Teilnehmern über 65 Jahren sowie mit ganz jungen Menschen (unter 18 Jahren) wurden ausgeschlossen. Das Ergebnis sollte unabhängig von Entwicklung, Wachstum, aber auch Krankheiten sein.
Einschätzung der Studienlage
Wenn man sich die letztendlich berücksichtigten Studien anschaut, dann variieren sie in ihren Aussagen stark. Es finden sich extrem positive und extrem negative Aussagen, aber auch welche, die gar keine Zusammenhänge zwischen der HRV und Selbstkontrolle feststellen konnten. Für Frau Dr. Zahn besteht Klärungsbedarf: “Auch wenn wir keinen Einfluss von der Art der Aufgabe oder der Messgeräte finden konnten, ist davon auszugehen, dass es andere Einflussgrößen gibt, die die Ursache für die großen Unterschiede in den Studien sind. Welche das sind, müssen wir allerdings erst noch herausfinden.”
Mit der Berücksichtigung des Publication-Bias wurde noch auf eine weitere Problematik hingewiesen. Frau Dr. Zahn kommentiert sie: “Der Umgang mit Studien, die einen Nullbefund oder Ergebnisse entgegen den Erwartungen aufweisen, ist für alle Wissenschaftler schwierig. Ich gehe davon aus, dass für unser Thema auch einige Studien fehlen. Der Grund, warum sie nicht für eine Veröffentlichung genommen wurden, könnte sein, dass sie vielleicht nur ganz kleine oder negative Zusammenhänge aufwiesen. Auch aufgrund dieser Tatsache enttäuscht mich das Ergebnis nicht, auch wenn ich die Hoffnung hatte, stärkere Effekte zwischen HRV und Selbstkontrolle zu finden.”