Für die Betrachtung des Stressindexes habe ich mir den Heilpraktiker für Psychotherapie Bernd Heiler zur Hilfe geholt. Er hat eine Praxis für integrale Therapie in München und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Herzratenvariabilität (HRV) und Biofeedback. Wer möchte, kann sich bei ihm auch zu beiden Themen fortbilden.
Der Stressindex ist ein Ergebnis aus der russischen Weltraumforschung. Verglichen mit der heutigen Zeit gab es bei ersten Weltraumflügen nur wenige Informationen über das körperliche Befinden der Astronauten. Es wurden lediglich das Elektrogramm und Angaben über den Atem an die Erde übermittelt. Trotz des minimalen Datenflusses versuchte man möglichst viel aus den Informationen zu lernen. Man sah in der extremen Belastung eines Weltraumfluges die Chance, herauszufinden, wie der Körper reagiert. “Man muss einfach wissen, dass es damals noch keine Messmethoden gab, um zu schauen, wie das vegetative Nervensystem unter Stress arbeitet”, erklärt Bernd Heiler.
Die Erkenntnis aus dieser Zeit war, dass bei extremem Stress, wie er z. B. beim Start und vor der Landung herrscht, die Variabilität der RR-Intervalle abnimmt und dass es während des Fluges jedoch zu einer Angleichung des vegetativen Gleichgewichts kommen kann. Aus diesem Zusammenhang entwickelte der russische Raumfahrtwissenschaftler Professor Roman Baevsky die Formel für den Stressindex (SI).
Die Formel für den Stress-Index:
Die Formel ist einfach, wenn man mal verstanden hat, welche Werte in die Berechnung einfließen. Bei den einzelnen Formelbestandteilen handelt es sich um verschiedene Parameter, die alle etwas mit den RR-Intervallen zu tun haben:
- Der Modalwert (Mo) steht für die häufigste gemessene Dauer eines RR-Intervalls.
- Die Amplitude des Modelwerts (AMo) beschreibt den prozentualen Anteil im Verhältnis zu allen erhobenen RR-Intervallen.
- Die Variabilitätsbreite (MxDMn) ist die Differenz zwischen dem maximalen und minimalen gemessenen RR-Intervall.
“Letztendlich ist der SI nur eine mathematische Beschreibung eines erweiterten Histogramms. Anhand der Anzahl und Länge der Balken kann man eine ähnliche Aussage treffen,” so Bernd Heiler. In einem anderen meiner Artikel wird etwas umfangreicher auf die Berechnung des HRV-Parameters SI nach Baevsky eingegangen.
Mit dem SI lassen sich Verschiebungen des vegetativen Nervensystems (VNS) beurteilen. Werte von 30 bis 150 Punkten spiegeln ein gutes Gleichwicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus wider. Ab 500 Punkten kommt es zu Einschränkungen bei der Anpassungsfähigkeit. Eine ernstzunehmende Situation liegt bei Werten von über 1000 Punkten vor.
Der SI muss kein starres Maß sein. Auf ihn lässt sich Einfluss nehmen und er ist situationsabhängig. Ein Beispiel von Bernd Heiler zeigt seine Dynamik: “Bei einem Marathonläufer habe ich mal eine Langzeitmessung während eines Trainingslaufs gemacht. Als er die Zielgerade überschritt, hatte er einen SI über 5000 Punkten. Interessant war nun zu beobachten, wie sich der Körper nach der Belastung wieder normalisiert. Aufgrund des guten Trainingszustandes lag nach wenigen Minuten der SI bei 200 Punkten, nach wenigen Stunden bei circa 50 Punkten.”
Maßstab für den Erfolg von Entspannungstechniken
Aufgrund seiner Veränderlichkeit kann der SI in der Praxis auch als Maßstab für den Behandlungserfolg verwendet werden. Wird vor, während und nach einer Anwendung die HRV gemessen, lassen sich mit Hilfe des SI Rückschlüsse über die Wirkung erzielen. Auch für diesen Zusammenhang hat Bernd Heiler ein Beispiel aus seinem Praxisalltag parat: “Bei einem Mann um die vierzig Jahre war ein SI von 1000 Punkten das Ergebnis einer Kurzzeitmessung. Nach einem kurzen Biofeedback-Training sankt der Wert nach einer erneuten Messung in den Bereich 300-400 Punkte.”
Das folgende Diagramm zeigt beispielhaft die Wirkung eines Qiu-Biofeedback-Trainings auf den Stressindex:
Die Einflussnahme auf den SI ist für Therapeuten und Patienten gleichermaßen interessant. Bernd Heiler: “Für mich ist der SI ein Maßstab, dass meine Begleitung etwas bewirkt. Meinen Patienten kann ich mit den Verbesserungen zeigen, welches Potenzial in ihnen schlummert, das von ihnen nicht genutzt wird. Wichtig ist dabei, den Patienten zu zeigen, dass sie selbst etwas verändern können und so einen Ausstieg aus dem Gefühl der Hilfslosigkeit bekommen.”
Natürlich gibt es Unterschiede, nicht immer lässt sich gleich eine Verbesserung des SI unmittelbar nach der ersten Sitzung herbeiführen, je nach Gesundheitszustand kann sich dies auch über einen längeren Zeitraum ziehen. Abhängig ist das Ergebnis vom gesundheitlichen und körperlichen Zustand.” Bei sportlichen Menschen reagiert das VNS meist schnell auf Veränderung. Eher unsportliche Zeitgenossen brauchen etwas länger, um ihre Selbstregulation zu verbessern. Eingeschränkt sind Patienten mit z. B. einer chronischen Stressbelastung, schweren Depressionen oder Diabetes. An der Veränderung des SI lässt sich auch immer ein bisschen die Geschichte eines Menschen erahnen. Wenn Patienten beispielsweise klagen, dass sie schon lange keine Zeit mehr für Sport haben, lässt sich am SI erkennen, dass das VNS von der Vergangenheit noch profitiert.”
Verschiedene Systeme, unterschiedliche Werte
Der SI wird von verschiedenen Geräten berechnet. Obwohl eine Formel vorliegt, gibt es unterschiedliche Ergebnisse. Bernd Heiler erklärt, wie es zu einer Differenz von 50 bis 150 Punkten kommt: “Es fängt schon mal damit an, dass einige Hersteller den SI nur in Anlehnung an die Formel von Professor Baevsky berechnen, also nicht 100-prozentig nach seinen Vorgaben. Dann kommt hinzu, dass die Geräte bei ihren HRV-Berechnungen auf unterschiedliche Daten zurückgreifen. Werden beispielsweise das Alter und Geschlecht einbezogen, dann fällt die Betrachtung des SI anders aus als ohne diese Angaben. Wichtig ist natürlich auch der Umgang mit den Einflussgrößen, wie z. B. Mess-Artefakte. Nur wenn diese sorgfältig betrachtet werden, entsprechen die Werte auch annährend der Realität.”
Der SI ist ein Wert, der das Thema HRV etwas zugänglicher macht. Mit einem Index für den Stress kann jeder Mensch etwas anfangen. Bernd Heiler ist etwas zwiespältig: “Ich wende ihn zwar gerne an, aber eigentlich ist er mir fast zu plakativ. Ähnlich wie beim Wert des biologischen Alters gibt es kaum einen Patienten, der nicht nach seinem Stressindex fragt. Wichtig ist es, diesen immer im Kontext mit den weiteren Parametern der HRV zu betrachten.”