Ein Spire begleitet mich jetzt schon einige Wochen – was erstaunlich ist. Denn normalerweise verliere ich die Lust an Fitness-Trackern relativ schnell. Vielleicht weil mein Leben überschaubar ist – immer die gleiche Runde mit dem Hund – oder ich auch nicht so recht daran glaube, dass ein Bewegungssensor meine Schlafqualität so richtig beurteilen kann. Es könnte auch daran liegen, dass sie meist nur aufzeichnen und dann loben oder mahnen, aber nicht mit mir in Interaktion treten beziehungsweise mich effektiv weiterbringen.
Ein Wearable fürs Unterbewusstsein
Die ersten Tage mit dem Spire verliefen schon fast wie befürchtet. Er zeichnete meine Atmung auf und ich warf einen Blick auf die Kurve. Dass er mir öfters Anspannung als Entspannung meldete, hat mich nach einigen Tagen dann doch irritiert. “Today – You’ve been mostly tense”, findet wohl niemand begeisternd. Vor allem wenn die Anteile für Konzentration oder Entspannung dabei stehen und klein ausfallen. Spätestens bei diesem Ergebnis beginnt jeder über seine Atmung nachzudenken. Und hier fängt der Zauber an, sobald man sich Gedanken macht, verändert sich schon etwas zum Positiven.
Verhaltensweisen bewusst wahrnehmen
Für einen Schrittzähler setzt man überwiegend bewusst und willentlich einen Fuß vor den anderen. Demgegenüber wird mit der Aufzeichnung der Atmung ein fast völlig unbewusstes Verhalten festgehalten. Was uns wie selbstverständlich am Leben erhält, ist einer der besten physiologischen Indikatoren für psychische Zustände. Mit der Atmung lassen sich Einblicke in unseren Gemütszustand erreichen.
Wie und was der Spire erfasst und die App daraus macht
Ganz genau, trotz meiner Anfrage beim Hersteller Spire Inc., konnte ich das nicht herausfinden. Aber Folgendes steht fest:
- Der Spire erfasst die Ausdehnung und das Zusammenziehen von Rumpf und Zwerchfell beim Ein- und Ausatmen.
- Hochentwickelte Algorithmen (Auswertungsprogramme) in der Spire App teilen die erfassten Atemzüge in Muster ein. Diese Klassifizierung beruht nach Herstellerangaben auf “Duzenden” von Laborstudien. Als Studienergebnis wurden Verfahren entwickelt, die Zusammenhänge (Korrelationen) zwischen den Atemmustern und dem Geistes- und Gefühlszustand ermitteln.
- Die Orientierung und Anleitung, die die App je nach festgestelltem Zustand mitteilt, beruht nach Herstellerangaben auf Protokollen aus klinischen Studien, bei denen es unter anderem um die Linderung von Angst und Schmerz, die Senkung des Blutdrucks und die Steigerung der Herzratenvariabilität ging.
Das Atemmuster gibt Auskunft
Der Spire unterscheidet drei verschiedene Atemmuster: Entspannung, Anspannung und Konzentration. Ausgehend von der individuellen Durchschnittsrate der Atemzüge pro Minute gibt er seine Rückmeldungen.
Regelmäßige Atemzüge unterhalb des persönlichen Durchschnitts werden als Hinweis auf Entspannung interpretiert. Eine Atemfrequenz, die etwas über dem persönlichen Grundmuster liegt, wird als Hinweis auf Konzentration gedeutet. Erhöht sich die Atmung deutlich und wird unregelmäßig, wird dies vom Spire als Anspannung registriert. Mit dieser Einteilung gibt der Spire eine Rückmeldung über das mentale Befinden (state of mind) und die Balance der drei erwähnten Gemütszustände.
Atmung als Messgröße und als Einflussmittel
Die Beurteilung wird ganz auf Messungen der Atmung aufgebaut. Der integrierte Schrittzähler ist für Bewegungsfaule ein zusätzlicher Nutzen. Er dient der Software aber wahrscheinlich nur als Unterscheidungskriterium – steigt der Nutzer gerade Treppen oder hat er tatsächlich mentalen Stress. Lässt sich körperliche Betätigung ausschließen, dann bietet sich die Atmung als Messgröße und gleichzeitig auch als Mittel gegen den Anspannung an.
Mit der Atmung lassen sich Anspannung und Stress “einfangen”. Sie ist im Alltag leichter zu messen als das Stresshormon Kortison, der Blutdruck oder andere Stressindikatoren. Und: Über die Atmung kann als einzige Maßnahme bewusst auf die Entspannung eingewirkt werden – und das jederzeit ganz ohne Hilfsmittel.
Mit Coachings mehr Achtsamkeit lernen
Spire Inc. stellt zusätzlich zum Sensor und der Smartphone-App kleine Coaching-Kurse (Boosts) zur Verfügung. Zum einen werden damit die Zusammenhänge erläutert. Zum anderen dienen sie als geführte Entspannungsübungen. Im Angebot sind Mini-Einheiten von einer halben bis ganzen Minuten bis zu verschieden langen Meditationen.
Die Schnell-Programme, wie z. B. zur Beruhigung (30 seconds to calm), Erfrischung (quick guidance to focus) oder zum Druckabbau (30 seconds to shift), sind ein guter Einstieg und gute Beispiele, um zu erleben, wie sich mit wenig Zeitaufwand mentale Zustande ändern lassen. Zum Umdenken fordern die Anleitungen und Meditationen vom Zenmeister Thich Nhat Hanh oder Dr. Deepak Chopra auf.
Es gibt Beiträge, die mir sehr gefallen beziehungsweise mir auch helfen zu entspannen. Die Inhalte sind ansprechend, die Pausen sind genau richtig und die Stimme des Redners ist für meine Ohren sehr angenehm anzuhören.
Wahrscheinlich ist es eine Frage des Geschmacks oder der Vorlieben: Bei einigen Ausführungen war mir das Thema eher fremd, auch überforderte mich manchmal die Eindringlichkeit des Redners. Klangschalen mag ich normalerweise sehr gerne, nur sollte man in diesem Fall gut überlegen, wo man das iPhone hinlegt. Die Tatsache, dass alle Beiträge auf Englisch waren und teilweise nicht von Muttersprachlern vorgetragen wurden, hat mich überhaupt nicht gestört, sondern im Gegenteil an schöne Urlaube in Asien erinnert.
Spire Tutorial: Für alle Einsteiger ein MUSS
Was ich an dieser Stelle nicht versäumen will, zu erwähnen, ist das Tutorial von Dr. Neema Moraveji, Mitgründer und Chief Scientist bei Spire Inc. Ich habe es leider viel zu spät entdeckt und möchte es allen Einsteigern empfehlen, weil man daraus Wesentliches lernen kann. In fünf Einheiten erklärt er verschiedene Atemtechniken und Hintergründe, aber auch über die Einstellungsmöglichkeiten der App erfährt man einiges.
Die richtige Atemtechnik für den Parasympathikus
Ganz verschiedene Atemtechniken zur Entspannung und Vitalisierung werden in der Smartphone-App vorgestellt. Von Dr. Moraveji wollte ich wissen, welche Atemtechnik seiner Meinung nach den größten Effekt auf den Parasympathikus hat und damit natürlich auch über die respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) auf die Herzratenvariabilität (HRV).
Dr. Moraveji erläutert (aus dem Englischen übersetzt): “Eine Atmung mit ungefähr 5,5 Atemzügen pro Minute kann die RSA am besten stimulieren, wobei das Ausatmen länger dauern darf als das Einatmen (z. B. 1,5 Sekunden einatmen und 3,5 Sekunden ausatmen). Aber eine Atmung mit jeweils 3 Sekunden für Ein- und Ausatmung ist ebenfalls wohltuend. Die ungezwungene Atemrate eines gesunden Erwachsenen im Ruhezustand beträgt 9 bis 24 Atemzyklen pro Minute. Aufgrund der Modulation durch den Parasympathikus findet dann die RSA im High-Frequency-Bereich (HF: 0,15 bis 0,4 Hz) statt.”
Würde der Spire auch noch die HRV erfassen, dann wäre ein zusätzlicher Sensor für den Herzschlag notwendig. Die Messung wäre zwar genauer, aber auch aufwendiger. Für mich ist es gerade diese Einfachheit im ganztägigen Gebrauch, die den Charme des Spires ausmacht.
Hinweise für den Einsatz
Der Spire sieht aus wie ein kleiner grauer Stein, fühlt sich aber gar nicht kalt und hart an, sondern eher weich und warm. Was gut ist, denn man trägt ihn direkt auf der Haut. Mit dem Clip lässt sich der Fitness-Tracker ganz unauffällig an der Hüfte oder am Oberkörper tragen. Allerdings muss man bei der Inbetriebnahme in den Einstellungen festlegen, wo man den Sensor trägt. Meine Einschätzung ist, dass er am Oberkörper besser funktioniert. Aber wie er letztendlich an der Hüfte getragen funktioniert, habe ich nicht ausprobiert.
Der Pressemitteilung habe ich entnommen, dass der Spire waschmaschinenfest ist. Spontan hätte ich mich nicht getraut, ihn mit unserer Dreckwäsche mitzuwachsen. Daher habe ich Dr. Moraveji auch nach Pflegetipps gefragt. Er meint: “Der Spire ist ein belastbares Gerät, wasserfest und hat eine ausdauernde Batterie für eine Woche. Es braucht wirklich wenig Pflege, um seine optimale Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Wir empfehlen, es gelegentlich mit einem feuchten Tuch abzuwischen, insbesondere man zum Schwitzen neigt oder den Spire während schweißtreibender Tätigkeit trägt.”
Für alle Leser, die nicht auf Englisch meditieren möchten, habe ich in Erfahrung gebracht, dass es voraussichtlich im Oktober 2016 eine deutsche Version geben wird. Derzeit benötigen der Spire und die zugehörige Smartphone-App mindestens ein iPhone 4S oder iPad der 3. Generation.
Was hat mir der Spire gebracht?
Mittlerweile, nach vier Wochen, meldet mir der Spire immer häufiger “Today – You’ve been mostly calm”. Meine durchschnittliche Atemfrequenz ist etwas niedriger geworden. Ich weiß nun, was bei mir für Anspannung sorgt und wie ich gegensteuern kann. Ich nehme mir bewusst mehr kleine “Atempausen” und achte auch zwischendurch öfter auf meine Atmung. Für mich hat also das Ausprobieren des Spire insgesamt eine positive Veränderung meines “State-of-Minds” (und meiner Haltung zu Fitness-Trackern) gebracht.
PS: Der Spire wurde mir dankenswerterweise von der Firma Spire Inc. kostenlos für diese Recherche zur Verfügung gestellt.