Vorwegnehmen möchte ich, dass ich nicht auf alle Vorträge eingehen werde. Gerne lasse ich mir nachsagen, dass meine Ausführungen von meinen Interessen geprägt seien. Wer mit meiner Auswahl nicht zufrieden ist oder mehr wissen möchte, empfehle ich die Vortragsübersicht des Symposiums.
Der erste Blick ins Programm offenbarte, dass man sich für die acht Stunden im Audimax der Uni viel vorgenommen hatte. Was positiv auffiel: Es gab keine parallelen Veranstaltungen. Man musste sich also nicht für den einen oder gegen einen interessanten Vortrag entscheiden. Im 20-Minuten-Takt, manchmal auch schneller, wechselten sich die Vortragenden am Mikrophon und Beamer ab. Je nachdem wie gut sich die Redner ihre Zeit einteilten, konnten im Anschluss noch Fragen gestellt werden. Selbst in der Mittagspause gab es noch ein Programm: Mit einem Brötchen in der Hand konnte man sich durch die Poster-Ausstellung führen lassen.
Der erste Satz im Abstractband beschreibt das breite Themen-Spektrum: “Das 7. Symposium zur Herzratenvariabilität (HRV) und autonomen Funktionen gibt ein aktuellen Überblick zur rasant fortschreitenden Entwicklung in Methoden und Anwendungen der HRV in Sportwissenschaft, Arbeits- und Intensivmedizin sowie Kardiologie.”
Im Nachhinein wurde deutlich, dass die Erweiterung der Symposium-Reihe um das Gebiet der Arbeitsmedizin eine gute Idee war.
HRV – ein Werkzeug in der Arbeitsmedizin
Nach der Begrüßung durch Professor Hottenrott eröffnete Professorin Irina Böckelmann von der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg mit ihrem Beitrag das Symposium. Bis zu diesem Symposium kannte ich die Arbeitsmediziner nur durch ihre Veröffentlichungen im Internet. Ich nutze und verlinke sie gerne. Sehr aufschlussreich, auch für HRV-Anfänger, ist z. B. die Leitlinie Nutzung der Herzschlagfrequenz und der Herzratenvariabilität in der Arbeitsmedizin und der Arbeitswissenschaft. Hier ist Professorin Böckelmann Co-Autorin.
Professorin Böckelmann gab in ihrem Vortrag einen Überblick über die Forschungslage und den praktischen Einsatz der HRV in der Arbeitsmedizin: “Die HRV ist gut geeignet, um die objektive Beanspruchung bei der Beurteilung der Belastung am Arbeitsplatz einzuschätzen. Außerdem wird die HRV für die Bewertung der Beanspruchung z. B. im Verlauf einer Arbeitsphase, eines Arbeitstages beziehungsweise die Beurteilung bei Einführung neuer Arbeitsmittel und neuer Technologien am Arbeitsplatz eingesetzt. Die HRV eignet sich in dem präventiv ausgerichteten Fach Arbeitsmedizin insbesondere für Fragestellungen zur Prävention der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, als zusätzlicher Indikator zum Gesundheitszustand der Beschäftigten und zur Evaluierung von Präventionsmaßnahmen in den Betrieben. Die Ergebnisse der Literaturrecherche zeigen, dass die arbeitsmedizinische Forschung sich weiter auf Fragen der sympathischen und parasympathischen Aktivität des autonomen Nervensystems konzentrieren sollte, um unter anderem die (Fehl-)Beanspruchung frühzeitig zu erkennen und zu minimieren, und somit die Herz-Kreislauf-Gefährdung zu vermeiden beziehungsweise präventiv auf das Herz-Kreislauf-System zu wirken.”
Dass Arbeitsmedizin auch bei der Bundeswehr von Bedeutung ist, wurde mit dem Vortrag von Dr. Stefan Sammito, Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, und insbesondere aus der anschließenden Fragerunde vermittelt. Sein Sachgebiet ist die Gesundheitsförderung, Sport- und Ernährungsmedizin. Seine Forschungsprojekte finden im Bereich Arbeitsmedizin an der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg statt.
Auf dem Symposium berichtete Dr. Sammito von der MIGA-Heart-Study, bei der der Einfluss von Alter und Geschlecht auf die HRV untersucht wurde. Die Details können im Abstractband nachgelesen werden. Das Ergebnis bestätigt, das Alter und Geschlecht in HRV-Untersuchungen einzubeziehen: “Es zeigte sich durchgängig eine Reduzierung der HRV mit dem Alter und eine Geschlechtsabhängigkeit der HRV-Parameter.” Er präsentierte eine Übersicht von Studien, die zu HRV-Referenzwerten nach Geschlechter- und Alterseinteilung führten. Aus Sicht des Flottillenarztes sollten Referenzwerte aus vorangegangenen Studien mit Bedacht gehandhabt werden, weil bislang nur eingeschränkt eine prognostische Bedeutung von bestimmten Referenzwerten vorliegt. Er räumt noch einen deutlichen Forschungsbedarf ein.
Aus der Arbeitsmedizin gab es noch weitere interessante Vorträge:
- Die HRV wurde zur Beurteilung neuer Informationstechnologien genutzt. Die Belastung von Werkzeugassistenzsystemen mit unterschiedlicher Visualisierungstechnik (Head-Mounted-Displays mit Augmented-Reality-Technik) wurde an Modellarbeitsplätzen untersucht.
- Eine Untersuchung zur Arbeitsbelastung von Finanzangestellten lieferte Hinweise, dass es deutliche Zusammenhänge zwischen der subjektiven Einschätzung der Arbeitsbelastung und der autonomen Regulationsfähigkeit gibt.
- Das Befinden von Langzeitarbeitslosen wurde mit der HRV untersucht, mit folgendem Ergebnis: Die Dauer der Arbeitslosigkeit scheint mit Veränderungen der autonomen Funktions- und Regulationsfähigkeit in Zusammenhang zu stehen.
Von Spechten, Regentropfen und Herzschlägen
“Wenn das Herz so regelmäßig wie das Klopfen eines Spechtes oder das Tröpfeln des Regens auf dem Dach wird, wird der Patient innerhalb von vier Tagen sterben.” Wer kennt dieses Zitat von Wang-Shu-He nicht? Gerne wird es zur einfachen Erklärung der HRV herangezogen. Professor Johannes Mockenhaupt von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg nahm in seinem Vortrag das Zitat unter seine wissenschaftliche Lupe.
Zum Klopfen des Spechtes und dem Tröpfeln des Regens führte der Professor für Medizininformatik eine Signalanalyse durch und verglich diese mit dem Herzschlag. Nachdem er die Hürden der unterschiedlichen Signalquellen überwunden hatte, kam er zum Ergebnis, dass sich das Klopfen von Spechten und Regentropfen als Prognose für die Lebenserwartung von Patienten nicht eignen.
Da der im Zitat von Wang-Shu-He vorgenommene Vergleich nicht verifiziert werden konnte und wegen der immer fehlenden exakten Quellenangabe, sah sich Professor Mockenhaupt zu einer genaueren Literatur-Recherche veranlasst. Er besorgte sich eine Kopie des Originalwerks von Wang Shu-He und suchte in ihm vergeblich die zum Zitat passenden chinesischen Zeichen, beispielsweise für den Specht. Aber das will nichts heißen, bewertete er am Ende seines Vortrags die vermutlich falsche oder stark interpretierende Übersetzung. Vielleicht findet sich ja irgendwo noch eine klare Quellenangabe für dieses Zitat. Übrigens: Wer sie dem Professor nennen kann, dem stellt sein Dekan einen Preis in Aussicht. Was das sein wird, hat er in Halle leider nicht erwähnt.
HRV im Sport, schon lange ein Thema
Das Interesse an der HRV im Sport ist groß, weil sich anhand der Werte die aktuelle Tagesform und Belastungsfähigkeit eines Sportlers einschätzen lässt. Die Messungen dienen bereits seit langer Zeit als eine Grundlage für die Trainingssteuerung. Mit dem Ergebnis kann schnell und unkompliziert beurteilt werden, wie der aktuelle Leistungszustand ist. Meist reichen für die Bestimmung hochwertige Pulsuhren aus.
Bei den Vorträgen zur Sportmedizin machte Professor Hottenrott den Anfang. Sein Thema war die Optimierung von Training und Regeneration. Die Schwierigkeit ist, im Sport immer das richtige Maß zwischen Leistungssteigerung und Überlastung zu finden. Wir erfahren von dem Sportwissenschaftler: “Ein systematisches Review (Bellenger et al, 2016a) kommt zu dem Ergebnis, dass sich die vagalassoziierte autonome Regulation erhöht, wenn ein mehrwöchiges Ausdauertraining zur Leistungssteigerung führt. Bei einer Leistungsstagnation oder Leistungsabnahme sind die Befunde nicht so einheitlich.”
Das Problem liegt in der Unterscheidung von einem Übertraining (Overload) und einem Overreaching, einer Trainingsform, die kurzfristig zu einer Leistungsminderung, aber nach einer Erholungsphase zur Leistungssteigerung führt. Die Ausführungen von Professor Hottenrott: “Ein Overloadtraining von wenigen Wochen kann bei vorrübergehender Leistungsabnahme auch mit einer Erhöhung der vagalen HRV-Parameter einhergehen, wie in der Studie von Le Meur et al. (2013) gezeigt wurde. Bei einem funktionellen Overreaching erhöht sich die Leistungsfähigkeit nach einer ein- bis zweiwöchigen Regenerationsphase über das Ausgangsniveau. Bei einem nicht funktionalen Overreaching ist die vagale Aktivität im Liegen erniedrigt und die Leistungsfähigkeit ist auch nach einer längeren Entlastungsphase nicht wieder hergestellt (Plews et al 2012).”
Im Trainingsalltag ist entscheidend, ob das aktuelle Training positive oder negative Anpassungen auslöst. Die Empfehlung von Professor Hottenrott: “Um diese Frage zu beantworten, ist ein Test erforderlich, der mehrere Herzfrequenz- und HRV-Parameter sensibel erfasst. Nach derzeitigem Erkenntnisstand scheint dies mit dem Orthostatic-Test beziehungsweise mit den Lagewechsel-Test möglich zu sein.”
Während seines Vortrags zeigte Professor Hottenrott eine Folie mit verschiedenen Kurvenverläufen eines Orthostatic-Tests. Je nachdem wie das Niveau im Liegen und anschließend im Stehen ausfällt, kann bereits ein geschulter Blick erfassen, welche Wirkung das Training aufgelöst hat.
Praktische Erfahrungen mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen ihres Vaters lieferte Laura Hottenrott in ihrem Vortrag. Sie studiert an der Deutschen Sporthochschule in Köln und ist erfolgreiche Mittel- und Langstreckenläuferin. Sie erläuterte, wie sie jeden Morgen mit der V800-Sportuhr von Polar einen Orthastatic-Test macht. “Die Testauswertung erfolgt mit dem Programm Polar Flow. Analysiert werden die RMSSD-Werte im Liegen und Stehen, die Herzfrequenz im Liegen und Stehen und der RMSSD-Wert unmittelbar nach dem aktiven Aufstehen.”
Wesentliche Erkenntnisse von Laura Hottenrott sind: “Nach einem mehrtägigen sehr hohem aeroben Umfangstraining steigt der RMSSD-Parameter im Stehen deutlich über die persönlichen Referenzwerte an und die Herzfrequenz im Stehen ist deutlich niedriger als normal. Teilweise ist die Herzfrequenz im Stehen nicht höher als die Herzfrequenz im Liegen. Völlig anders ist der Herzfrequenz-Verlauf beim Orthostatic-Test nach einer mehrtägigen intensiven Ausdauertrainingsphase mit einem hohen Anteil der Trainingsbelastung in beziehungsweise über der individuellen anaeroben Schwelle. Die Herzfrequenz-Werte sind unmittelbar nach dem Aufstehen und im Stehen im Vergleich zu den eigenen Referenzwerten deutliche erhöht und der RMSSD ist im Stehen geringer.” Die Leistungssportlerin empfiehlt den Lagewechsel-Test vor allem während intensiver und umfangreicher Trainingsphasen, um ein funktionales beziehungsweise nicht funktionales Overreaching frühzeitig zu erkennen und Übertraining zu vermeiden.
Natürlich waren das nicht die einzigen Beiträge aus der Sportwissenschaft:
- Es wurde eine interessante Studie über den Einfluss von Kraft- und Ausdauersport auf die Blutdruckentwicklung und die HRV vorgestellt. Keine Neuigkeit ist, dass bei beiden Trainingsformen nach 12 Stunden noch geringe günstige Veränderungen des Blutdrucks nachweisbar sind. Einen Unterschied gab es jedoch bei den HRV-Werten. Im Gegensatz zum Ausdauertraining zeigten die Veränderungen der HRV-Werte nach Krafttraining einen dauerhaften günstigen Effekt auf die autonome kardiale Kontrolle. Ein Anstieg der kardialen vagalen Aktivität konnte selbst 12 Stunden nach dem Krafttraining noch gemessen werden.
- In einem weiteren Vortrag wurde auf die Bedeutung der HRV bei der Beurteilung der vegetativen Regulationsprozesse hingewiesen. Nach einer erschöpfenden Ausdauerbelastung, wie z. B. einem Halbmarathon, reicht es nicht aus, allein die Herzfrequenz zu beobachten. Nur mit Hilfe der HRV wird die mehrtägige sympathikoton dominierte Steuerung des Herz-Kreislauf-Systems sichtbar. Für die planvolle Gestaltung des individuellen Regenerationsprozesses ist HRV also ein wertvoller Beitrag.
HRV zur Risikoeinschätzung in Kardiologie und Intensivmedizin
Die HRV ist ein sensibler Parameter. Veränderungen werden gerne auch als Frühwarnsignal für Folgekrankheiten verwendet. Bei den Vorträgen zur Kardiologie und Intensivmedizin ging es in erster Linie darum, schwerkranke Patienten vor schlimmeren Erkrankungen zu bewahren.
Im ersten Vortrag wurde die Zuhörerschaft von Professor Hendrik Schmidt von der Medizinischen Fakultät der Otto von Guericke Universität Magdeburg über MODS aufgeklärt. Das Multiple Organ-Dysfunktions-Syndrom steht für das Versagen mehrerer Organe. Auf internistischen Intensivstationen ist das MODS für kritisch kranke Patienten der Auslöser für einen kardiogenen oder septischen Schock – und leider oft ein Todesurteil. Was über Leben und Tod entscheidet, beschreibt Professor Schmidt: “MODS-Patienten mit einer Herzfrequenz (Hoke et al.2012) 90/min haben ein 2,3-fach höheres Risiko innerhalb von 28 Tagen zu versterben als MODS-Patienten mit einer Herzfrequenz unter 90/min (Hoke et al.2012). Für diese inadäquat hohe Herzfrequenz des MODS-Patienten sind viele Faktoren verantwortlich; wesentliche Faktoren dürften die bei MODS vorliegende kardiale autonome Dysfunktion mit Überwiegen des Sympathikus, die Sympathikus-Sensibilisierung des HCN-Herzschrittmacherkanals durch Endotoxin (Ebelt et al.2015) und die partielle Entkoppelung des Schrittmacherkanals von der Parasympathikus-Kontrolle (Gholami et al.2015) sein.”
Um die Vermeidung des MODS ging es noch in weiteren Beiträgen. Die HRV wird immer wieder als Prädiktor, also zur Vorhersage, herangezogen. Auch bei Schlaganfall-Patienten ist sie ein früher Indikator für die häufigste Komplikation, die Lungenentzündung.
HRV bestätigt beruhigende Wirkung von Melissengeist
Wer an der Wirksamkeit von Melissengeist gezweifelt hat, der sollte sich die Untersuchung von Professor Wilfried Dimpfel von Justus-Liebig Universität Giessen anschauen. Sie hatte zum Ziel, die in früheren Experimenten beobachtete Wirkung auf das autonome Nervensystem im Schlaf auch am Tag zu bestätigen. Diese Wirkung konnte nun auch drei Stunden nach der Gabe im Vergleich zu einem Placebo in statistisch signifikanter Weise in Ruhe gemessen werden.
Mein Fazit
Das Symposium hat mal wieder gezeigt, wie vielfältig die HRV anwendbar ist. Auch gibt es allen Anwendern die Hoffnung, dass immer weitergeforscht wird, um noch mehr wertvolle Erkenntnisse von diesem faszinierenden Signal zu erhalten.
Dankenswerterweise hatte ich die Möglichkeit, kostenlos an dem Symposium teilzunehmen. Wie Professor Hottenrott in seiner Eingangsrede betonte, sind solche Veranstaltung trotz Kongressgebühr nur mit der Hilfe von Förderern und Sponsoren möglich. Deshalb möchte ich es nicht versäumen, auch die unterstützenden Firmen aufzuführen:
movisens GmbH, AMEDTEC Medizintechnik Aue GmbH, BioSign GmbH, Commit GmbH, Firstbeat Technologies Oy, MEWICON CATEEM-Tec GmbH, Polar Electro GmbH, Varilytic UG