Braucht man einen weiteren HRV-Wert?
Um es gleich vorwegzunehmen: Ja, man braucht den Alpha1-Wert, weil einem sonst die Sicht auf zusammenhängende (gekoppelte) Vorgänge im Körper sowie deren Komplexität und Dynamik im System versagt bleibt.
Dies für interessierte Patienten und Therapeuten nachvollziehbar zu machen, fordert mich insbesondere hinsichtlich der Wortwahl heraus. Denn eine allzu plakative und umgangssprachliche Darstellung ruft selbstverständlich berechtigte Einwände von wissenschaftlicher Seite hervor.
Professor Dr. Olaf Hoos von der Fakultät für Humanwissenschaften der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg hat mich einerseits inspiriert, diesen Blog-Beitrag zu schreiben, andererseits unterstützte er mich als Experte.
Bislang habe ich mich darauf beschränkt, jene Herzratenvariabilität(HRV)-Werte verstehen zu wollen, die mit sogenannten linearen Verfahren berechnet werden. Dazu gehören die bekannten Zeitbereichsverfahren für SDNN (Gesamtvariabilität bzw. Standardabweichung aller RR-Intervalle), RMSSD (Quadratwurzel der mittleren quadrierten Differenzen sukzessiver RR-Intervalle) usw. und die Frequenzbereichsverfahren für TP (Total Power), LF (Low Frequency) und HF (High Frequency). Diese Verfahren haben nach meinem Verständnis gemeinsam, dass sie jeweils die Aktivität eines Teils des vegetativen Nervensystems (VNS) erfassen und nicht das Zusammenspiel der Teilsysteme.
Das entspricht der traditionellen Vorgehensweise in der Wissenschaft: Komplexe Systeme werden so weit in Einzelteile unterteilt (dabei werden mitunter vereinfachende Annahmen getroffen), bis man nur noch einfache Zusammenhänge verstehen muss. Solange nicht das komplexe (und evtl. nicht vorhersehbare) Zusammenwirken der Einzelteile beschrieben werden muss oder deren Zusammenwirken einer starren Verzahnung wie bei einem Zahnradgetriebe entspricht, ist das eine erfolgreiche Methode.
Konkret meine ich damit, dass mit den HRV-Werten RMSSD und HF die Aktivität des Parasympathikus erfasst wird und akzeptiert wird, dass schon im LF-Bereich die Trennung nicht funktioniert, weil eine Überlagerung mit dem Sympathikus hinzukommt. Die Trennung in Teilsysteme ist hilfreich für das Verständnis, aber im Körper wirken sie lose gekoppelt zusammen. Daher muss auch das Kommunikations- und Wirkungs-Netzwerk der Organe beachten und bewerten.
Komplexität und Dynamik gehören zum normalen Leben
Betrachtet man nicht die Einzelteile des Körpers, sondern den Körper als Gesamtsystem, dann hat man es wegen der losen (nicht starren) Kopplung der verschiedenen Organe und deren Kommunikation (Regelkreise) untereinander mit einem nicht nur komplizierten System zu tun, sondern mit einem komplexen System mit nicht eindeutig vorhersehbarem Verhalten. Zur Beschreibung eines solchen Systems reichen lineare Verfahren nicht mehr aus, weil im Verhalten des Körpers keine einfachen Zusammenhänge wie “1 + 2 = 3” oder “2 x 3 = 6” feststellbar sind (Die Überlagerung von körperlichen Vorgängen führt selten zu deren Summe oder Produkt).
Die Organe beeinflussen sich nicht immer in derselben Weise gegenseitig. Der Körper reagiert beispielsweise morgens anders als abends. Auch ob er hungrig oder satt ist, beeinflusst das Zusammenwirken. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Einflüssen (wie z. B. physische und psychische Belastung, Wärmeregulation, Arzneimittelwirkung, Verdauung, Körperposition, Schmerzen, Jucken, Schluckauf). Insbesondere die gegenseitige Beeinflussung führt zu Verhalten, das nur mit nichtlinearen Verfahren beschreibbar ist. Was das bedeutet, können Mathematiker besser beschreiben, aber grob kann man sich vorstellen, dass Vorgänge eben nicht immer (zu 100 Prozent) gleich und wiederholbar ablaufen, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Reaktion auftritt.
Die körperlichen Vorgänge werden zu einem gewissen Teil als chaotisch empfunden – mal tritt eher mehr Ordnung und mal mehr Chaos hervor, aber normalerweise nicht zu viel oder zu wenig von beidem.
Hierzu gehört auch die Herzratenvariabilität (HRV).
Die ganze Problematik, dass der Organismus trotz unzuverlässiger Bedingungen und nicht vorhersehbarer Störungen robust funktioniert, wird im Fachgebiet Systembiologie behandelt. Herr Dr. Olaf Hoos hat mir sozusagen die Augen für dieses interessante Fachgebiet geöffnet.
Das Herz als Informant über das VNS
Das mehr oder weniger gute Zusammenwirken von Fühlern, Botenstoffen und Reaktionen der Organe lässt sich am Beispiel des Herzschlags deutlich erfahren. Das Zentralorgan Herz darf nicht wie eine mechanische Maschine funktionieren, denn sonst wären Anpassungsfähigkeit und Notlaufeigenschaften viel zu begrenzt. Bei der Herzraten-Messung werden nicht nur die Einzelteile betrachtet, sondern immer von sich aus Reaktionen des Gesamtsystems beobachtet. Im Falle der HRV kann man zwar Rückschlüsse auf die Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus ziehen, aber allein mit den linearen Verfahren ist die Überlagerung der an sich komplexen Veränderungen der HRV durch Regelungsvorgänge, die während der Messung die Herzrate verändern, nicht unterscheidbar.
Daher hätte es Vorteile, wenn man deutlicher unterscheiden könnte, welche Änderungen der Herzschlagrate vom VNS beeinflusst sind und inwieweit Auswirkungen anderer physiologischer Vorgänge sich auf die Herzrate auswirken und sich somit in den HRV-Werten niederschlagen.
Was hat die HRV mit Komplexität und Chaos zu tun?
Die HRV-Daten (gemessene RR-Intervalle) beinhalten zum größten Teil annähernd periodische Schwingungen (z. B. aufgrund Sinus-Knoten und RSA-Effekt). Zusätzlich gibt es noch zufällige Schwankungen, die eventuell eine gewisse Struktur haben können (Selbstähnlichkeit, fraktale Strukturen).
Die Variabilität der RR-Intervalle von Herzschlag zu Herzschlag ist wegen den Zufallskomponenten nicht vorhersehbar. Daher werden statistische Verfahren verwendet, um dieses Phänomen zu beschreiben. Die HRV-Werte SDNN (Gesamtvariabilität bzw. Standardabweichung aller RR-Intervalle) und RMSSD (Quadratwurzel der mittleren quadrierten Differenzen sukzessiver RR-Intervalle) sind hierfür wohl die bekanntesten. Sie sind zwar ein Maß für die Streuung der RR-Intervalle, sagen jedoch nichts über die zeitliche Verteilung oder Zufälligkeit der Reihenfolge aus.
Bei einem gesunden Herz erwartet man also eher ein Bild seiner Ruhepuls-Schwankungen mit nur schwach ausgeprägter Ordnung und Regelmäßigkeit (umgangssprachlich also geringer chaotischer Art). Davon ausgehend wäre es doch interessant, festzustellen, wenn die anscheinende Unregelmäßigkeit abnimmt und mehr Ordnung im Herzschlag beobachtbar wäre. Denn damit hätte man Hinweise (1) auf eine aufkommende Krankheit oder (2) auf störende Einflüsse während einer HRV-Messung.
Hierzu trägt der Alpha1-Wert bei.
Warum ist der Alpha1-Wert nützlich?
Der Alpha1-Wert ist sehr aufschlussreich für eine Gesamteinschätzung der Regelkreise im Körper, aber es ist verdammt schwer zu erklären, wie er zustande kommt. Privatdozent Dr. Olaf Hoos von der Fakultät für Humanwissenschaften der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg ist Experte auf diesem Gebiet und war mein Gesprächspartner. Gemeinsam haben wir versucht, die Mathematik und Physik aus dem Thema rauszuhalten.
Im Körper finden zwischen vielen zufälligen Signalen auch immer Wiederholungen statt. “Ganz anschaulich nachvollziehen lässt sich dieser Zusammenhang anhand der Schwankungen im Gangbild. Kein Schritt ist wie der andere. Die Bewegung ist eine Mischung aus Zufällen und Wiederholungen. Stimmt das Verhältnis nicht mehr, nimmt die Sturzgefahr rapide zu”, beschreibt Dr. Hoos das Phänomen Gangbild als Analogie zur HRV.
So eine Vermischung von zufälligen und wiederkehrenden Elementen lässt sich auch beim Herzschlag feststellen. In die Berechnungen des Alpha1-Wertes fließen die zufälligen und wiederholenden Bereiche innerhalb der HRV ein. Die Einbeziehung der Veränderlichkeit eines Signals ist übrigens der große Unterschied zwischen linearen und nichtlinearen HRV-Werten.
Mit dem Alpha1-Wert wird die Selbstähnlichkeit von HRV-Signalkomponenten zum Ausdruck gebracht und der Grad der Zufälligkeit beziehungsweise Übereinstimmung (Korrelation) der RR-Intervalle bestimmt.
Er lässt Rückschlüsse zu, ob das VNS auf die Vielzahl der äußeren und inneren Einflüsse entsprechend komplexe physiologische Anpassungen vornimmt, um eine gewisse Stabilität beizubehalten, oder ob das VNS von wenigen Einflüssen beherrscht wird (z. B. körperliche Belastung, Angst, Fieber) und dadurch auch der Herzschlag weniger variabel und mehr gesteuert (geordnet) stattfindet.
Der Anteil des Chaos lässt sich mit Alpha1 nicht berechnen
Dr. Hoos möchte Missverständnissen gleich vorbeugen: “Der Alpha1-Wert rechnet nicht den Chaos-Anteil aus. Er gibt nur einen Hinweis, wie unabhängig die Schwankungen (Variabilität) von einer physiologischen, eher länger anhaltenden Veränderung (Trend) sind. Denn, stark zusammengefasst, ist der Alpha1-Wert letztendlich der Steigungskoeffizient einer Regressionsgerade in einer doppellogarithmischen Darstellung, die aus der Auswertung der trendbereinigten und integrierten RR-Intervall-Zeitreihen als Effektiv-Schwankungen in Abhängigkeit von unterschiedlich langen Zeitabschnitten aufgetragen wird.”
Hier wird nochmal deutlich, wie abstrakt die Zusammenhänge zwischen mathematischen Methoden und praktischer Anwendung sind. Zumindest haben wir es erfolgreich geschafft, eine mathematische Formel zu vermeiden. Bitte lesen Sie weiter, das war der schwierigste Part – versprochen!
Die dem Alpha1-Wert zugrundeliegende Methode der trendbereinigten Fluktuationsanalyse (Detrended Fluctuation Analysis, DFA) zu erläutern, würde mich an dieser Stelle überfordern. Zu den Details der DFA bieten folgende Quellen einen Einstieg: (1) Trendbereinigende Fluktuationsanalyse, (2) Human Heartbeat and Gait Dynamics in Health and Disease und (3) Fractal dynamics in physiology: Alterations with disease and aging.
Nach meinem Verständnis extrahiert die Trendbereinigte Fluktuationsanalyse die Korrelationen zwischen aufeinanderfolgenden RR-Intervallen über unterschiedliche Zeitabschnitte. Die Analyse resultiert im Alpha1-Wert, der kurzfristige Schwankungen beschreibt, und im Alpha-2-Wert, der langfristige Schwankungen beschreibt. Die Kurzzeit-Korrelationen geben den Einfluss des Barorezeptorreflex wieder.
Die Bewertung des Alpha1-Wertes
Um sich den Wert etwas besser vorstellen zu können, eine Analogie von Dr. Hoos: “Der Alpha1-Wert weist auch auf die ‘Rauheits-Charakteristik’ der Zeitsignale hin: Je größer der Alpha1-Wert, desto glatter oder weicher verändern sich die RR-Intervalle. Der Alpha1-Wert liegt bei HRV-Signalen üblicherweise zwischen 0,5 und 1,5 (theoretisch zwischen 0 und 2).
- Werte um 0,5 deuten auf eine weitgehend zufällige Herzratenveränderung hin, die eher mit weißem Rauschen veranschaulicht wird und auf einer schwachen Kopplung der Regelkreise bzw. deren Interaktion beruht.
- Liegen die Werte bei 1,5, findet die Herzratenveränderung hochkorreliert statt und wird wegen des Frequenzspektrums der Zufallskomponenten mit Brownsches-Rauschen beschrieben.
- Alpha1-Werte um 1,0 werden als Normalwerte eingestuft.”
Bei kleinem Alpha1-Wert ist es also wahrscheinlicher, dass große und kleine RR-Intervalle abwechselnd aufeinander folgen. Bei größerem Alpha1-Wert ist es wahrscheinlicher, dass auf lange RR-Intervalle eher wieder längere bzw. auf kürzere RR-Intervalle eher kürzere folgen.
Die Einstufung, was Normalwerte sind, erfolgt nicht zwangsläufig aus der Durchführung der DFA, sondern entsteht erst in Verbindung mit physiologischen Studien. Die diagnostische Verwendung von Alpha1-Werten ist ähnlich sorgfältig vorzunehmen wie bei anderen HRV-Werten. Denn die Randbedingungen (Störfaktoren) müssen kontrolliert sein, um aussagekräftige Vergleiche vornehmen zu können. Nur so lassen sich die physiologischen Zusammenhängen eindeutig zuordnen.
Normalwertangaben für Alpha1-Werte beziehen sich üblicherweise auf die HRV-Kurzzeitmessung. Bei RSA-Messungen kann man zwar auch einen Alpha1-Wert berechnen, aber man muss ihn aufgrund der geführten Atmung und des dabei auftretenden RSA-Effekts anders bewerten: Bei RSA-Messungen kann als Normalwert nicht 1,0 angenommen werden, sondern eher 1,5, weil der Zufallsanteil durch die kohärent arbeitenden Teilsysteme (starke Kopplung von Atmung und Herz) verringert wird.
Eine genauere Aufteilung zum Alpha1-Wert wird in folgender Quelle vorgenommen: Fraktale Charakteristik der Herzfrequenz in Abhängigkeit von Belastungsgestaltung und ausgewählten Beanspruchungsindikatoren während erschöpfender Ausdauerbelastungen mit und ohne Endpunktorientierung auf Seite 81 in Tabelle II‐6-Differenzierung des Kurzzeit-Skalierungsexponenten alpha1 (α1).
Alpha1-Wert in der Praxis
Ich habe kaum anschauliche Praxisbeispiele oder exemplarische Interpretationen zum Alpha1-Wert gefunden. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Web-Site zum HRV-System vnsanalyse, wo bei der Diskussion von typischen Praxisbeispielen auch auf den Alpha1-Wert eingegangen wird.
Der Alpha1-Wert bietet Informationen, die nicht schon von anderen, linearen HRV-Werten beigetragen werden. Lediglich mit dem SD2/SD1-Quotienten scheint er zu korrelieren (gemäß Dokumentation zum HRV-Scanner des HRV-System-Herstellers BioSign GmbH).
Die etablierten HRV-Werte linearer Methoden wird der Alpha1-Wert in der therapeutischen Praxis nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Ausschlaggebend sind hierfür einerseits die ausgeprägten Erfahrungen mit den traditionellen HRV-Werten im klinischen Einsatz sowie andererseits jene anderer Sichtweise auf die Daten mittels DFA. Insgesamt konnte bislang keine überragende Bedeutung des Alpha1-Wertes oder anderer nichtlinearer HRV-Werte in klinischen Studien festgestellt werden (gemäß Advances in heart rate variability signal analysis: joint position statement by the e-Cardiology ESC Working Group and the European Heart Rhythm Association co-endorsed by the Asia Pacific Heart Rhythm Society). Herr Dr. Hoos präzisiert hierzu: “In zahlreichen Studien hat sich der Alpha1-Wert dadurch ausgezeichnet, dass er im Vergleich zu anderen HRV-Parametern die höchste Trennschärfe bzw. die sensitivste Bedeutung in der Risikoabschätzung besitzt. Entscheidend ist aber der andere Blick auf die Daten.”
Mein Fazit
Mit dem Alpha1-Wert steht für die Analyse des VNS ein neuer, interessanter HRV-Wert zur Verfügung, der nicht wie manch anderes Ergebnis nichtlinearer Methoden bloß ein Ergebnis statistischer Berechnungen ist, sondern bereits auch eine Praxisrelevanz bestätigt bekommt. Er ist zusätzlich zu den anderen HRV-Werten für Diagnose und Therapie verwendbar. Insbesondere erweitert er den Aussagebereich von HRV-Messungen, indem er Hinweise auf den Zustand des Gesamtsystems gibt, wie es sonst keiner der traditionellen HRV-Werte linearer Methode bietet. Ich werde mit Interesse verfolgen, wie sich der Alpha1-Wert als innovativer HRV-Wert in der Praxis durchsetzen wird.
PS: Ich danke Herrn Dr. Olaf Hoos für seine motivierenden Anregungen und seine Erklärungen der Hintergründe. Erich Langenbuch danke ich für seine Unterstützung.