Singen entspannt! Seine Wirkung lässt sich mit anderen bewussten Atemtechniken vergleichen und am Herzschlag messen. Je nachdem, was für ein Lied gesungen wird, beginnen die Herzen von Chormitgliedern schon nach ein paar Takten im Gleichtakt zu schlagen und zu schwanken.
Immer wieder werde ich gefragt, was man tun könnte, um die Herzratenvariabilität (HRV) zu verbessern. Singen wäre eine Möglichkeit, aber es muss das richtige Lied sein, um eine Wirkung zu erzielen. In einer wissenschaftlichen Studie wurde die Wirkung verschiedener Musikstile miteinander verglichen.
Dr. Björn Vickhoff wollte im Jahr 2013 am Institut für Neurologie und Physiologie der Sahlgrenska Academy an der Universität Göteborg wissen, ob Singen im Chor eine ähnliche Wirkung wie Yoga auf die HRV hat. Seine Hypothese war: Da auch beim Gesang kontrolliert und bewusst geatmet wird, müsste er sich ebenfalls positiv auf das Herz auswirken.
Sänger und Messmethoden
Die Untersuchung Music structure determines heart rate variability of singers war zweigeteilt: Zum einen traten 15 junge Erwachsene zum Chor-Gesangstest an. Während der gesamten Zeit wurde ihre Herzfrequenz aufgezeichnet (Messtechnik: Ohr-Clip, emWave). Als zweite Fallstudie wurde bei einer kleineren Gruppe von fünf Sängern zusätzlich noch Atemtiefe und ‑frequenz, der Hautleitwert und die Fingertemperatur gemessen (Messtechnik: cStress).
Der Studienaufbau – Summen, Hymne, Mantra
Um vergleichbare Voraussetzungen (die Baseline) zu schaffen, wurde am Anfang und vor jeder Wiederholung ein gefühlsmäßig neutraler Text für 5 Minuten gelesen. Zwischen den Gesängen wurden während einer Pause von einer Minute Anweisungen für das Singen des nächsten Stückes gegeben.
- Stück: 5 Minuten lang wurde frei gesummt, wobei jeder Sänger beliebig Atem holen konnte.
- Stück: Gesungen wurde das langsame, schwedische Kirchenlied (Hymnus) “Härlig är Jorden” für 5 Minuten. Hier war es die Komposition, die an bestimmten Stellen die Atmung vorgibt.
- Stück: Es bestand nur aus dem Satz “just relax”, der immer wieder mit einer simplen Melodie wiederholt wurde – vergleichbar mit einem Mantra. Die Sänger erhielten die Anweisung, jeweils zwischen den Phrasen zu atmen. Es wurde gemeinsam und regelmäßig alle 10 Sekunden Luft geholt. Dauer: 5 Minuten.
Der Sinn hinter der Musikauswahl
Der aufmerksame Leser wird die Unterschiede zwischen den Stücken bestimmt erkannt haben. Während das Summen völlige Freiheit lässt, erzwingt das Mantra ein gemeinsames Ein- und Ausatmen. Die Hymne nimmt zwischen beiden eine Zwischenstellung ein. Ihre Liedstruktur legt einen Atemrhythmus nahe, jedoch keinen regelmäßigen.
Die Rolle der Atmung auf das Herz
Die Atmung beeinflusst den Herzschlag. Wird tief eingeatmet, schlägt das Herz schneller, beim Ausatmen schlägt es wieder langsamer. Der Grund für die Verlangsamung ist der Vagusnerv. Sein Einwirken auf das Schrittmacherzentrum verlangsamt den Herzschlag. Beim nächsten Atemzug löst sich “Bremse” wieder und das Herz schlägt wieder schneller. Diese ganz natürliche und gesunde Reaktion wird Respiratorische Sinusarrthythmie (RSA) genannt. Messen lässt sie sich mit der gleichnamigen RSA-Messung.
Der Einfluss der Stücke auf den Herzschlag
Wie zu vermuten war, schlugen die Herzen der Chormitglieder je nach Stück und Musikstil mal mehr oder auch weniger im Gleichklang.
- Summen: Es gab regelmäßige Schwankungen der Herzfrequenz, aber sie fanden bei jedem Teilnehmer ganz unterschiedlich statt.
- Hymnus: Eine Angleichung war beobachtbar, die Unterschiede zwischen den Sängern waren nicht mehr so groß wie beim Summen. Der RSA-Effekt zeigte sich jedoch weniger deutlich wie beispielsweise bei einer Atemvorgabe.
- Mantra: Die Herzen schlugen fast im Gleichklang. Die Teilnehmer hatten eine hohe Überstimmung der dominanten HRV-Frequenz bei ca. 0,1 Hz, was der vorgegebenen Atemfrequenz entsprach.
Die Veränderungen der HRV
Als Grundlage für die Bewertung der HRV-Werte dienten die Angaben der Task Force of The European Society of Cardiology and The North American Society of Pacing and Electrophysiology.
Die Erkenntnisse der schwedischen Forscher stützten sich vor allem auf die Werte der fünf Teilnehmer der zweiten Gruppe.
- Während des Summens konnte keine signifikante Steigerung der HRV (anhand des RMSSD-Wertes) beobachtet werden. Wie bereits erwähnt, entstand nur ein kleiner RSA-Effekt.
- Beim Hymnus war der RMSSD-Wert deutlich höher als bei der Baseline und beim Summen. Das Verhältnis von LF/HF war verringert. Die Frequenzanalyse zeigte Schwankungen der Herzrate, aber nicht so regelmäßige wie beim Summen.
- Die höchsten RMSSD-Werte erzielte das Mantra-Singen.
Weitere Messergebnisse – nicht aussagekräftig
Die Messungen zu Fingertemperatur und Hautleitwert brachten keine weiterführenden Erkenntnisse beziehungsweise konnten nicht als zuverlässige Unterscheidungsmerkmale herangezogen werden.
Singen für das Gemeinschaftsgefühl
Singen ist ein gemeinsames Handeln in einer Gruppe, das zu einer gemeinsam gespürten Erfahrung führt. Dadurch wird auf positive Weise das Gemeinschaftsgefühl gesteigert (und auf gemeinsam überwundene negative Erfahrungen oder auf übereinstimmende Meinungen kann verzichtet werden).
Zu allen Religionen gehört, dass gesungen wird. Gesungen wird auch im Fußballstation. Es gibt Nationalhymnen, Arbeitslieder und Marschgesänge. Wenn man schaut, wo und wann überall gesungen wird, dann versteht man mit dieser Studie ein bisschen besser, was Singen mit uns macht.
Die Synchronisierung der Herzschläge fördert (über den RSA-Effekt) das Gefühl des gemeinsamen Erlebens und verändert die eigene Wahrnehmung hin zu einer gemeinsamen Perspektive. Die Herzen schlagen im ähnlichen Rhythmus. Aus “ich” wird “wir”. Die Welt kann aus einem gemeinsamen Blickwinkel wahrgenommen werden, auch wenn sowohl im Detail als auch individuell noch abweichende Auffassungen bestehen.
Grüezi Nicole Franke-Gricksch!
Besten Dank für Ihre ausgezeichneten Blogs. Alle sehr klar, gut verständlich.
So auch dieser über das Singen, das offenbar analog dem Effekt einer getriggerten Atmung wirkt. Prof. Max Moser von Graz schreibt ja viel über den Einfluss von Musik resp. Rhythmus auf die HRV. Dass Singen eine ähnlich Wirkung hat habe ich bisher nicht realisiert. Dass offenbar das Wir-Gefühl beim Singen im Chor zusätzlich etwas zur vegetativen Balance beiträgt scheint selbstverständlich. Schön das hier in einer kommentierten Studie nachgewiesen zu wissen.