Aufbauend auf meinen Beitrag über die Berechnung von RR-Intervallen und Herzschlagrate möchte ich die Berechnung des RMSSD für HRV-Interessierte nachvollziehbar machen, die weniger technische Vorbildung mitbringen (zu denen ich auch gehöre).
Die Berechnung
Die Berechnung des RMSSD-Wertes durchläuft folgende Schritte: Die zeitliche Differenz von jeweils aufeinanderfolgenden RR-Intervallen werden mit sich selbst multipliziert, um nur positive Werte zu erhalten. Diese Zwischenwerte werden summiert und durch die Anzahl der RR-Intervall-Differenzen geteilt, um den Mittelwert zu erhalten. Vom Mittelwert dieser quadrierten Differenzen wird die Quadratwurzel gezogen.
In wissenschaftlichen Veröffentlichungen wird die RMSSD-Berechnung üblicherweise komprimierter ausgedrückt: Quadratwurzel des Mittelwerts der Summe aller quadrierten Differenzen zwischen benachbarten RR-Intervallen. Das entspricht der übersetzten Definition, die von der Task Force of The European Society of Cardiology and The North American Society of Pacing and Electrophysiology (ESC/NASPE) 1996 veröffentlicht wurde: “The square root of the mean of the sum of the squares of differences between adjacent NN intervals”. Der Vollständigkeit halber soll hier die mathematische Formel nicht fehlen und führe sie auch an:
Als weitere Schreibweisen findet man auch R-MSSD oder rMSSD.
Sein Nutzen
Der RMSSD-Wert ermöglicht, die kurzzeitigen Veränderungen der RR-Intervalle quantitativ zu vergleichen. Er beschreibt also die sogenannte Kurzzeitvariabilität des Herzschlags. Für die Gesamt-Variabilität ist der SDNN-Wert zuständig.
Es kommt also zum Ausdruck, ob sich der Parasympathikus entsprechend aktiv in die Einflüsse von Sinusknoten und Sympathikus einmischt. Damit ähnelt der RMSSD den HRV-Werten SD1 oder High-Frequency (HF). Statistiker drücken dies dadurch aus, dass sie von einer hohen Korrelation dieser Werte sprechen.
Normale Werte
Der RMSSD wird sowohl bei HRV-Kurzzeit-Messungen als auch bei Langzeitmessungen (z. B. 24-Stunden-Messungen) berechnet. Für Langzeitmessungen hat die oben erwähnte Task Force der ESC/NASPE von 1996 “Normwerte” der HRV (Mittelwert ± Standardabweichung) empfohlen: für den RMSSD 27±12 ms. Solche Normwerte sind allerdings wenig sinnvoll, wenn man die Abhängigkeit der HRV vom Geschlecht und vom Alter nicht berücksichtigt.
Obwohl es aus Studien Richtwerte für normale RMSSD-Werte gibt, werden sie oft angezweifelt. Gerade bei älteren Menschen können die Studien ihre Schwächen haben: Meistens sind zu wenig Probanden je Altersklasse beiderlei Geschlechts beteiligt und Vorerkrankungen machen die Einteilung in vergleichbare Gruppen zunehmend komplizierter.
Im Vorsorge- und Fitness-Bereich wird daher nicht der sogenannte Quervergleich zwischen unterschiedlichen Menschen bevorzugt, sondern der “Längsvergleich” von HRV-Werten einzelner Personen. Es werden Veränderungen des RMSSD (und anderer Kennwerte) aus vielen Messungen der jeweiligen Person gewonnen und persönliche Richtwerte ermittelt. Deren Veränderung wird dann über die Zeit beobachtet und für Verhaltens-Tipps ausgewertet.
Robustheit
Für die Praxis ist immer wichtig, wie empfindlich ein HRV-Wert für Messfehler und Anomalien ist. Die vom Sensor (EKG-Elektroden, Brustgurt, Ohr-Clip) und dem Datenerfassungsgerät gesammelten Messwerte beinhalten oft störende Anteile, die nicht zu einem typischen Herzschlag passen und zu sogenannten Artefakten im Ergebnis führen. Auf zwei solcher Störfaktoren möchte ich eingehen:
- Ungenauigkeit bei der Digitalisierung und
- Artefakte aufgrund von ungewöhnlichen Herzschlägen oder Bewegungen.
Um Ungenauigkeit bei der Digitalisierung zu veranschaulichen, soll eine HRV-Kurzzeitmessung herangezogen werden und deren RR-Intervalle gezielt verändert werden. Die Veränderungen sind so gewählt, dass sie Ungenauigkeiten bei der Messdatenerfassung simulieren (+/- 2 ms, zufällig verteilt). Die Auswirkung der Manipulation beobachten wir dann am errechneten RMSSD.
Im Schaubild werden die künstlich verfälschten RR-Intervalle grau dargestellt. Die kleinen Abweichungen vom ursprünglichen Signal sind erkennbar und wirken wie eine Art von Rauschen oder Flimmern. Dieser Eindruck beruht auf der Zufälligkeit der eingebrachten Abweichungen. Der Vergleich der von beiden RR-Intervall-Reihen berechneten RMSSD-Werte zeigt, dass der RMSSD von dieser Art von Signalstörung kaum beeinflusst wird.
Um den Einfluss der weiter oben erwähnten Artefakte zu veranschaulichen, nehmen wir wieder dieselbe HRV-Kurzzeitmessung und simulieren einen falsch ermittelten Herzschlag. Dabei wird eine R-Zacke simuliert, die im EKG-Signal ca. 50 % verfrüht detektiert wird. Das führt zu einem entsprechend kürzeren und einem längeren RR-Intervall, wie das folgende Diagramm zeigt. Die Auswirkung dieser Manipulation beobachten wir dann wieder am errechneten RMSSD.
Im Schaubild werden die Daten mit dem verfälschten RR-Intervall wieder grau (unten) dargestellt und die unveränderten Daten schwarz (oben). Das betroffene RR-Intervall-Paar ist oben ebenfalls grau markiert. Der Vergleich der von beiden RR-Intervall-Reihen berechneten RMSSD-Werte zeigt in diesem Fall, dass der RMSSD von dieser Art von Signalstörung sehr stark beeinflusst wird. Der ursprüngliche RMSSD steigt von 15 auf 45 ms, in diesem stichprobenartigen Beispiel um den Faktor 3.
Bereits dieser Einfluss eines einzelnen verfälschten Herzschlags ist für eine verlässliche RMSSD-Berechnung nicht hinnehmbar. Mit diesem Beispiel ist verständlich, warum üblicherweise darauf hingewiesen wird, dass das Verfahren zur Berechnung des RMSSD für Artefakte sehr anfällig ist.
Solche Artefakte kommen in der Praxis häufig vor. Vor allem bei Bewegung, insbesondere beim Sport und bei 24-Stunden-Messungen, treten sie meist wegen instabilem Hautkontakt der Mess-Sensoren auf. Eine weitere Ursache für Artefakte sind ungefährliche Extrasystolen (zusätzliche Herzschläge, die nicht von Sinusknoten erzeugt werden) oder gesundheitlich bedenkliche Rhythmusstörungen.
Um gewonnene RR-Intervalle trotz Artefakte für eine HRV-Analyse auswerten zu können, wird meist versucht, die Daten automatisch zu korrigieren. Dies gelingt in einfachen Fällen, wie im Beispiel eines einzelnen ungewöhnlichen Herzschlags, meist recht gut. Falls aber zum Beispiel wegen Kontaktunterbrechungen am Sensor stärker ausgeprägte Artefakte auftreten, sind die automatischen Verfahren auch schnell überfordert. Dann ist eine nachträgliche Bearbeitung der Messdaten von Hand das bessere Vorgehen. Solche manuellen Korrekturmöglichkeiten sind nach meinem Kenntnisstand nicht in Systemen für Endverbraucher vorgesehen, sondern eher für Wissenschaftler und Therapeuten. Besonders positiv aufgefallen ist mir die Korrekturmöglichkeit mit Hilfe des Poincaré-Diagramms, wie das beim BioSign HRV-Scanner umgesetzt ist.
Ich hoffe, meine Erläuterung der Berechnung des RMSSD-Wertes ermöglicht auch HRV-Interessierten mit weniger technischer Vorbildung, eine Vorstellung der Zusammenhänge zu entwickeln.
PS: Die Beispieldaten wurden mit einem HRV-Scanner (Modell: Professional) des Herstellers BioSign gemessen, exportiert und mit Hilfe der Programmiersprache R von Erich Langenbuch aufbereitet.