Der Einfluss des Vagus bei COVID-19

COVID-19-Patienten können die Wirkung des Vagusnervs für ihre Genesung nutzen. Die Stimulation des Vagus über eine langsame Atmung reicht aus, um die Entzündungswerte zu senken.

Das Sars-CoV-2-Virus verursacht häufig eine Lungenentzündung. Diese ist eine der häufigsten Gründe für eine Krankenhauseinweisung. Am Universitätsklinikum Ulm haben das Team aus der Klinik für Psychosomatische Medizin um Dr. Marc N. Jarczok, Sozialwissenschaftler und promoviert im Fach Public Health, und Frau Dr. med. Elisabeth Balint, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, gezeigt, dass Patienten mit einer mittelgradigen Lungenentzündung den Entzündungsmarker Interleukin-6 mit Atemübungen schneller senken können.

„Als vor Weihnachten 2020 die zweite Coronawelle über uns hineinbrach, wollten wir etwas gegen die volllaufenden Stationen unternehmen. Dass eine elektrische Vagusstimulation Entzündungen senken kann, wissen wir aus verschiedenen Grundlagenstudien. Den Vagus über die Atmung anzuregen, passte jedoch wesentlich besser zu unseren Vorstellungen und Möglichkeiten. Denn es sollte etwas Einfaches sein, was ohne große Budgets, Schulungen, Personal- und Geräteeinsatz sowie aufwendige Zulassungen funktioniert. Erst einmal einen wissenschaftlichen Antrag auf Förderung zu schreiben, um an Geld und Mittel zu gelangen, war damals nicht denkbar. So ein Antrag dauert 6 bis 12 Monaten in der Begutachtung. Aber allein die Möglichkeit, etwas zu erforschen, was Patienten mit Covid-Pneumonie helfen könnte, motivierte uns so, dass wir es auch ohne Förderung schaffen wollten. Bis auf ein paar Sachkosten, die aus dem Forschungsbudget der beteiligten Kliniken stammten, konnten wir die Studie allein über unsere Arbeitszeit und Freizeit realisieren – und mit motivierten Studenten/Doktoranden, die bereit waren, viel Zeit auf der Infektionsstation zu verbringen,“ erinnert sich Dr. Jarczok. „Am Anfang haben viele den Kopf über unsere Idee geschüttelt: Ein Sozialwissenschaftler will auf der Infektionsstation mit Hilfe von Atemübungen bei Patienten die Entzündungsparameter senken. An eine Wirkung hatte keiner richtig geglaubt. Den Zugang erhielten wir vor allem deshalb, weil meine Kollegin Frau Dr. med. Balint über gute Kontakte im Haus verfügte und wir so die wissenschaftliche Basis für unsere Idee vorstellen konnten.“

Wie der Vagus eine Entzündung verringert

Als Selbstheilungsnerv übernimmt der Vagusnerv eine wichtige Funktion bei der Steuerung von Entzündungsreaktionen. Durch seine Verbindung zu allen inneren Organen ist er an der Hemmung und Aktivierung von Entzündungen beteiligt. Die Nervenenden seiner sensorischen Fasern können entzündliche Veränderungen im Gewebe detektieren und an das Gehirn melden. Über seine absteigenden Nervenbahnen wird die Entzündung durch die Ausschüttung von Acetylcholin in den Makrophagen gehemmt. Normalerweise dient dieser Botenstoff zum Austausch zwischen den parasympathischen Fasern. Im Falle einer Entzündung dockt das Acetylcholin am Rezeptor der Makrophagen an. Die Bildung der entzündungsfördernden Substanzen wie Inteleukin-6 oder des Tumor-Nekrose-Faktor (TNF-) kann so gebremst werden.

Die Aktivität des Vagusnervs kann mit der Herzratenvariabilität (HRV) bewertet werden. Klassische Parameter wie RMSSD oder SDNN spiegeln seine Einflussnahme wider. Menschen, die ihre HRV täglich messen, konnten bereits einen Abfall feststellen, noch bevor ihr Corona-Test positiv war. „Im Mount Sinai Medical Center in Miami,“ berichtet Dr. Jarzcok, „wurde in einer HRV-Studie beobachtet, dass der SDNN-Parameter einen Tag vor einem Zytokinsturm deutlich abfällt.“

Die Interventionen aus der BeatCOVID-Studie

In die Studie wurden 46 Patienten aufgenommen, die bei ihrer Krankenhausaufnahme als Hauptdiagnose eine mittelgradige COVID-19-Lungenentzündung hatten. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip auf zwei Gruppen verteilt. Eine Gruppe wurde für Atemübungen betreut, die andere machte keine Atemübungen und diente als Kontrollgruppe zum Vergleich von Wirkungen. Das Durchschnittsalter lag bei 57 Jahren mit einer Standardabweichung von 13 Jahren. Etwas mehr als die Hälfte waren Männer. Eine Voraussetzung für die Teilnahme war, dass alle Patienten in der Lage waren, die Atemübungen alleine auszuführen.

„Da man auf einer Infektionsstation nicht so einfach Gerätschaften zwischen den Zimmern hin- und hertragen kann, haben wir mit einer App gearbeitet. Denn die meisten Patienten bringen ihr Smartphone ins Krankenhaus mit. Wir entschieden uns für die kosten- und werbefreie App Breath Ball,“ beschreibt Dr. Jarczok das Vorgehen. „Die App ist sehr einfach gehalten. Alle Patient:innen konnten bereits nach einer kurzen Anleitung die Atemübungen selbstständig durchführen.“

Beide Gruppen wurden im punkto Aufklärung und Abwicklung der Studie gleich betreut. Die Kontrollgruppe erfuhr die gleichen Zuwendungen von den Betreuern wie die Interventionsgruppe – mit einem Unterschied: Die Interventionsgruppe sollte zusätzlich dreimal täglich 20 Minuten lang alleine bestimmte Atemübungen ausführen. Im Wesentlichen ging es dabei um langsames Atmen mit einem vorgegebenen Rhythmus. Das Verhältnis für Ein- und Ausatmung lag bei 4 zu 6 Sekunden. „Für ungeübte Menschen ohne Lungenentzündung ist eine Taktung von sechs Atemzügen pro Minute für 20 Minuten oft eine Herausforderung. Im Ruhezustand liegt der Durchschnitt bei etwa 12 bis 18 Atemzügen pro Minute. Bei Patienten mit einer COVID-bedingten Lungenentzündung kommt erschwerend hinzu, dass diese eine erhöhte Atemfrequenz von 20 bis 30 Zügen haben können. Das erfordert Willen und Konzentration, daher wurden die ersten Übungen von uns begleitet, auch, um die Technik zu korrigieren. Im Übereifer atmen manche Patienten zu tief. Das kann zu Schwindel führen. Mit dieser Unterstützung war es für die meisten Teilnehmer kein Problem, dieser Atemtaktung 20 Minuten lang zu folgen. Dieser Teil war einfacher als gedacht. Wir hatten Bedenken, wie gut sich dieses Atemtraining bei diesen Patienten umsetzten lässt. Es hat uns ehrlich gesagt alle erstaunt,“ erzählt der Sozialwissenschaftler.

Die Ergebnisse aus der BeatCOVID-Studie

Das Interleukin-6 ist der Zielparameter für Komplikationen. Es ist einer der Entzündungsparameter, den Ärzten bei COVID-Patienten im Auge behalten. „Diesen Zusammenhang und die Tatsache, dass das Interleukin-6 täglich bei den Patienten erhoben wird, haben wir für die Wirkung der Atemübungen auf das Krankheitsgeschehen genutzt,“ erklärt Dr. Jarczok.

Das statistische Modell, das die Interaktion zwischen Gruppe und Zeit einschloss, ergab laut Preprint zur Studie einen signifikant niedrigeren Verlauf von Interleukin-6 bei der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe (Effektgröße Cohens f2=0,11, LR-Test p=0,040). „Dass viel üben auch viel hilft, zeigt der Vergleich der Intention-to-Treat-Stichprobe mit der Treatment-per-Protocol-Analyse. Bei allen Patienten, egal ob sie sich an unsere zeitlichen Vorgaben bei den Atemübungen hielten, konnten wir Effekte auf das Interleukin-6 beobachten. Erwartungsgemäß war der Effekt bei den Patienten höher, die ein Mindestmaß der vorgesehene Übungszeit erreichten,“ berichtet der Experte. 16 Patienten in der Interventionsgruppe erfüllten mit einem Übungsumfang von mindestens zweimal 20 Minuten täglich die Kriterien für die Treatment-per-Protocol-Analyse (f2=0,15, LR-Test p=0,022).

Dr. Jarczok fasst die Ergebnisse zusammen: „Eine explorative Analyse, bei der der Medianwert der Übungszeit zur Vorhersage des Interleukins-6-Wertes am nächsten Morgen herangezogen wurde, ergab eine Dosis-Wirkungs-Beziehung mit positiven Auswirkungen einer Übungszeit von mehr als 45 Minuten pro Tag. D. h., zwei Übungseinheiten täglich zusätzlich zu der Standardbehandlung zeigten sich hier effektiv. Weiter Studien werden zeigen müssen, ob sich dieser Effekt bestätigt. Falls dem so wäre, hätten wir ein unheimlich kostengünstiges Instrument zur IL-6-Senkung hinzugewonnen.“

Studienfazit von Dr. Jarczok

„Patienten, die eine langsame Atmung praktizierten, hatten im Beobachtungsverlauf signifikant niedrigere Interleukin-6-Werte als die Kontrollgruppe, mit einer kleinen bis mittleren Effektgröße und ohne relevante Nebenwirkungen. Das ist ein Ergebnis, das wir in dieser Deutlichkeit nicht so erwartet hatten. Derzeit wird das Atemtraining auf der Infektionsstation nicht systematisch angewandt. Vielleicht liegt es daran, dass die Studie noch im Preprint ist und wir alle auf die Veröffentlichung warten. Was man darüber hinaus nicht übersehen darf: Es war eine kleine Studie, die nur an einer einzelnen Klinik durchgeführt und vom Klinikalltag beeinflusst wurde. Auch was den Vagusnerv betrifft, sind noch viele Fragen offen: Es braucht z. B. noch weitere Studien, um besser zu verstehen, wie vagale Signale Zellprozesse steuern.

Eine langsame Atmung kostet nichts und kann mit geringem Personalaufwand umgesetzt werden. Für Länder mit einem niedrigen Durchschnittseinkommen sind unsere Ergebnisse eine Therapieoption. Ich hoffe, sie überzeugen auch hierzulande. Die Wirkung der langsamen Atmung übertrifft so manches Medikament, was zur Behandlung bei COVID-19-Patienten zum Einsatz kommt hinsichtlich des Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Da sollte ein Umdenken stattfinden.“

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